Die Zwerge der Kammerlöcher


Nicht weit von Ilmenau liegt ein Dorf, Angelrode, und in dessen Nähe ist eine vielfach zerklüftete Bergwand mit mancherlei Schluchten und Höhlen, Felsenkammern gleich, welche man die Kammerlöcher nennt. In diesen Kammerlöchern hausten einst Zwerge in großer Anzahl. Sie wühlten von der Wache, so heißt der Teil des Berges oberhalb des Dorfes Angelrode, weil im Dreißigjährigen Kriege ein schwedisches Wachtpikett dort gestanden, bis zum Kummel, dem vorspringenden Bergstock, an welchem das Angelroder Wirtshaus mit seinem vortrefflichen Felsenkeller gelegen, einen Stollen und gelangten durch diesen in den Wirtskeller, dem sie an Wein und Lebensmitteln merklichen Abbruch taten. Diese Zwerge hausten im Schoß der tiefen Felsenkammern lustiglich und taten sich gütlich an des Wirtes Wein und Bier und sonstigen Vorräten. Außerdem übten sie noch manchen Schabernack und manche Neckerei gegen die Bewohner der umliegenden Dörfer. Der Wirt wußte lange nicht, wer seine Diebe seien, warf Verdacht auf sein Gesinde und seine Hausgenossen, kränkte diese und hatte viel Verdruß. Endlich geriet er auf den Einfall, Asche in den Keller zu streuen, um vielleicht an den Fußtapfen die unsichtbaren Beizapfer zu erkennen. Und als er eines Abends dies getan und des andern Morgens nachsah, fand er zahllose kleine Spuren von Gänsefüßen ähnlichen Füßchen, die aus einer Felsspalte im tiefsten Hintergrund des Kellers gekommen waren und in diese sich verloren. Der Wirt holte sich Rat bei einem weisen Mann, welcher lautete, man solle, wenn man die Nähe der stets unsichtbaren Zwerge vermute, mit Taxuszweigen nach ihnen schlagen; jeder Zwerg, der getroffen werde, würde dann augenblicklich sichtbar. Auch sei den Zwergen die Form des Kreuzes verhaßt, und wenn man am goldenen Sonntag Eibenbüsche kreuzweise über ihre Wege lege, so beschritten sie letztere nimmermehr wieder. Der Wirt befolgte den Rat, teilte ihn weiter mit, und am nächsten Trinitatissonntag stieg das halbe Dorf Angelrode hinauf in die Kammerlöcher, brach dort Eibenzweige ab und steckte sie kreuzweis an die Ställe, in denen die Zwerge das Vieh behext, und in die Keller, aus denen die Zwerge allerlei geholt. Ob auch einige der Zwerge von den Eibenruten getroffen und sichtbar wurden, weiß man nicht, der Rat des weisen Mannes blieb aber doch in Ehren, denn wenn kein Zwerg sichtbar wurde, so war es eben ein Beweis, daß keiner getroffen worden war. Das neckische Zwergvölkchen aber wanderte nun aus. In einer Nacht hörte man vom Kirchenholz herab durch das Dorf und die jenseitigen unfruchtbaren Felsanhöhen hinauf nach Rippersrode zu ein anhaltendes Trippeln und Trappeln, als ziehe ein Heer von vielen tausend kleinen Leutchen vorüber, und ward ein leises Weinen und Schluchzen dabei vernommen. Nimmermehr kamen sie wieder. Von der Zeit an wurde es Brauch zu Angelrode, daß alljährlich am Trinitatissonntage alt und jung hinauf auf den Weißenberg und in die Kammerlöcher ging, dort Taxuszweige brach und sie kreuzweis in die Küchen, Keller, Stuben und Ställe steckte. Und obschon der Aberglaube, daß damit den Zwergen und Hexereien gewehrt werde, verschwunden ist, so ist doch der Brauch geblieben, und namentlich säumt des Dorfes fröhliche Jugend nicht, am genannten Tage Eibenzweige von des Berges wundersamen Felsenkammern herabzuholen. Auch geht die Sage, daß zuzeiten in dem schaurigschönen Felslabyrinth der Kammerlöcher oder Felsenkammern über Angelrode sich ein schneeweißer Hirsch mit goldnem Geweih blicken lasse, jedoch nur von Sonntagskindern und auch nur von unbefleckten. Einem solchen ist Macht gegeben, den Hirsch zu fangen und ihn in die Tiefe der größten Felsschlucht zu führen, dort schlägt der Hirsch mit dem Goldgeweih an das Gestein, das Geweih fällt ab, dem Glücklichen zum Lohne, und zugleich öffnet sich ein Gang in das Berginnere, darinnen sich nun eine Kammer nach der andern zeigt, alle voll Gold und Silber, Perlen und Edelsteine. Da mag der Erwählte dann getrost zufassen und davontragen, so viel er kann. Dem Hirsch aber wächst in Jahresfrist ein neues Geweih, aber nicht alle Jahre findet sich ein auserwähltes Glücks- und Sonntagskind, das reinen Herzens und makellosen Wandels, ja kaum alle hundert Jahre einmal.

Quelle: Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 355-356.